Ich über mich

Zum Sachsen-Anhalt-Tag 2003 in Burg erschien ein Gesamtverzeichnis der regionalgeschichtlichen Buchreihe „Veröffentlichungen zur Burger Geschichte“ seit 1953. Man findet die Liste zum Teil illustriert in Nr. 50 des Titels „Vom Burger Schützenhaus zur Stadthalle“ (S. 141-155). Der Stadt Burg dient Buch Nr. 50 bei offiziellen Angelegenheiten als „Diplomaten“–Geschenk für wichtige Besucher. Dreifach verzeichnet ist darin mein Name Ruth Reimann-Möller als Autorin von Nr. 25, 39 und 48. Deswegen glaube ich, mich Heimatfreunden in Ost und West hier besser vorstellen zu sollen: mich, meine Burger Themen und deren Ursprünge.

Vorkriegs-Burger könnten sich aus gemeinsamen Zeiten in Grund-, Mittel- oder Oberschule (Luisenschule) an mich erinnern; dagegen Nachkriegs-Burger mich persönlich kennen von (fast) jährlichen Besuchen bei den Eltern, zuletzt von Ehemaligentreffen der Mittelschulklasse Elisabeth Pott. (Einschulung hier 1938).

Ich bin „Tochter des Maurers Willy, Ihlestraße 13“, wie es 1934 im ersten Zeugnisheft hieß. Anfang der Dreißigerjahre war mein Vater Mitbegründer der ersten (?) freien Maurerkolonne Peter; meine Mutter Appretiererin in Firma Tack. Nach dem Krieg arbeitete sie „in der Knäcke“. Als Kleinkind wuchs ich vorwiegend in der Obhut von Großmüttern auf, die als Handschuhmacherin bzw. Plätterin lediglich Heimarbeit machten. Die beiden Großeltern-Adressen sind Brennpunkte Burger Geschichtsschreibung; das erkannte ich bei Gesprächen im Familienkreise und im Heimatkundeunterricht meines Grundschullehrers Kilian schon als Kind: Weinberg/Burgberg/Wasserturmberg (Treppengang I) und „Neu York“ (Blumenthaler Straße 37)! In der Frühzeit des Wasserturms hatten Vater Willy und seine Geschwister mit Rohrmeister Hahns Kindern auf dem Gelände der vermuteten Urzelle der Stadt gespielt.

Kindertage bei guten Alten sind behütet, aber eintönig. Vor „grausamer Langeweile“ (Fontane) ist man angewiesen auf Abenteuer der Phantasie! Auch wohl darum geriet mir Lehrer Kilians Unterrichtserzählung „Der Trommler von Burg“ zum außergewöhnlichen, tiefst empfundenen Kindheitserlebnis! Die Heimatsage festigte meine Verbundenheit mit Burg und seiner wechselvollen Geschichte auf ewig! Im „Exil“ zu Zeiten politischer Trennung, ohne Glauben an Wiedervereinigung, habe ich das Schlüsselerlebnis zum ewigen Andenken an daheim aufgeschrieben und auf eigene Kosten in Frielings „Anthologie Buchwelt ’95“ veröffentlicht. Es ist die Nummer 25 der Liste: „Heimatkundestunde: Der Trommler von Burg - Psychogramm einer Burgerin – ein Burger Psychogramm?“ Unter den inzwischen 52 oder mehr Titeln der Reihe ist die Art der Darstellung freilich untypisch. Kein Sach-Ergebnis neuer Regionalgeschichtsforschung wird vorgestellt, sondern „gefühlter Orts-Geist“ mit identitätsbildender Wirkung.

Zu meinem Geburtshaus „Neu York“ am Eingang des Marienwegs gehörte die daneben gelegene „Lange Reihe“ (Blumenthaler Straße Nr. 36), eine ehemalige Wanderarbeiter-Kaserne, die zuletzt als Schlichtwohnungsanlage für Problemmieter und Stadtarme diente. Besitzer des Häuserensembles war von 1915 bis 1936/37 mein Großonkel Carl Specht. (Stadt Burg als nachfolgender Besitzer hat diese Denkmale der frühen heimischen Industriegeschichte um 1968 abreißen lassen). Der uralte einsame „Onkel Specht“ erzählte mir oft etwas von einem Sohn früherer Nachbarn, Hermann Matern, Kommunist. Die nie für möglich gehaltene steile Karriere des Sohns wandernder (?) Landarbeiter in einer an Personal knappen Partei setzte ihn noch nach Jahren in Erstaunen. Als „Tageblatt“-Leser verfolgte er Materns Flucht aus NS-Haft durch halb Europa bis nach Moskau mit Sensationslust, nicht ohne Wohlwollen: Ein Tausendsassa! - Kam andererseits der offenbar Stadtbekannte bei Dreißig-/Vierzigjährigen zur Sprache, dann gerieten sie in Erregung. „Olle Harmann? Radikalinski! Großmaul! Scharfmacher! Schläger!“ Politische Verhaltensweisen zählten sie auf, daß ich denken mußte: typisch „Lange Reihe“! Auch mein Vater pflegte eine Art Abscheu gegenüber „Radikalen“, „Totengräbern der Weimarer Republik“.

In Gesellschaft der Uralten von „Neu York“ las ich dicke Märchenbücher und spintisierte, später stürzte ich mich auf Schularbeiten als Kontrastprogramm zu Ereignislosigkeit und Stille in „Neu York“. So gelangte ich „mit Fleiß“ auf die Mittelschule des Rektors Roshop und später auf die Oberschule für Mädchen, die im Kriege kommissarisch von Oberschulrat Direktor Dr. Hubert Tschersig geleitet wurde. Der ehemalige SPD-Stadtrat in Breslau und aktiver Kämpfer für die Weimarer Republik war zur NS-Zeit strafversetzt worden nach Burg. Kriegsende und Neuanfang erlebte ich in seiner eigenen Klasse 7/8. Wie verwundert war ich Tochter des Arbeiterstandes, daß ich ausgerechnet hier unter „Höheren Töchtern“ vom Ortsgeist „Lange Reihe“ eingeholt wurde!

Nach dem „Zusammenbruch“ lief Dr. T. zu großer Form auf, um seinen „deprimierten“ Schülerinnen, in der Mehrzahl vom NS-System „ent-täuschte“ frühere BDM-Führerinnen, väterlichen Trost zu spenden und in ihnen Hoffnung auf verlockende Aufgaben eines andersartigen Neuanfangs zu wecken. Das Zauberwort: Demokratie statt Totalitarismus! Gewöhnliches Unterrichtsgeschehen ließ er uns in Form von Parlamentarismus mit Rede und Gegenrede durchspielen. Doch kaum hatte meine Klasse die menschenfreundlichen Grundbegriffe guter Demokraten verinnerlicht, da wurde der erste neue Lehrplan gültig und unser Lehrer und Direktor schwenkte auf Totalitarismus „Marke Moskau“ um! Freilich hätte der einmal Strafversetzte eine weitere Regimegegnerschaft nicht riskieren dürfen! – Für mich ein Schock! So nicht, Dr. T.! Statt Demokratie in Theorie und Praxis nun also: Radikalinskis an der Macht! Alleinherrschaft von Matern und Genossen! Die absehbare Folge? Kleinkarierte Gewaltausübung nach Verhaltensmustern der „Langen Reihe“! Bestürzt sah ich die ahnungslosen „Töchter aus gutem Hause“ den neuen Schwenk, wenn auch murrend, mitmachen. – Ich aber stimmte ab mit den Füßen! Im Frühjahr 1946 entwich ich zur „Tante vom Weinberg“ in den Westen, um ein „Abitur ohne ideologische Verrenkungen“ zu machen und blieb dort für immer, weil die Genossen, wie voraus gesehen, hinter mir den „Eisernen Vorhang“ schlossen.

Plötzlicher Totalverlust der Heimat ist nicht leicht zu verkraften! Da war es gut, daß die Heftchen der „Veröffentlichungen zur Burger Geschichte“ mir als Grüße von zu Haus durch Eltern oder Freunde über die Jahre nachgeschickt wurden, wenngleich das eine oder andere auch strotzte von Ideologie. Eine Schrift mit dem sibyllinischen Titel „30 Jahre Kampf gegen die Rote Gefahr in Burg“ erreichte mich aber nicht. Dabei interessierte gerade sie mich stark, denn Verfasser war mein früherer Lehrer in Demokratie, Dr. T.! War sie vergriffen? In den Achtzigerjahren erhielt ich sie vom Staatsarchiv Magdeburg, als Filmrolle. Demnach hatte die SED der Fünfzigerjahre den damaligen Stadtarchivar Dr. T. beauftragt, mit einer Propagandaschrift das nach mehr als 10 Jahren noch immer verheerend schlechte Ansehen der „Einheitspartei“ bei der Bevölkerung zu verbessern. Wahrscheinlich wurde das Heldenlied des Saal- und Straßenkämpfers Matern erwartet. Das mußte den Weimarer SPD-Mann, der gegen KPD und NSDAP verloren hatte, in größte Verlegenheit setzen! Konnte er sich ohne Gesichtsverlust aus der Affäre ziehen? Er berichtet nach Quellenlage im Stadtarchiv über den Kampf der kaiserlichen Obrigkeit und bürgerlichen Oberschicht gegen die Sozialdemokratie, deren Schwachheit und Versagen gegenüber späteren politischen Gegnern er sinnigerweise an Hand von Stalinzitaten erklärt und tadelt: Ein um sieben Ecken gedachtes Meisterstück der Verschleierung nach Vorbild Talleyrand! Das mußte einspurige Ideologen irritieren! Sie verboten die Schrift nicht, aber unterbanden deren Verbreitung. Für mich bedeutet die „sehr schwache Darstellung“ (Bleistiftnotiz auf dem Titelblatt) ein Aha-Erlebnis, eine Erklärung für manches, das ich als Kind der Dreißigerjahre in und mit der Familie gehört und gesellschaftlich erfahren konnte. Auch ist sie ein Zeugnis dafür, wie Dr. T. aus Selbsterhaltungstrieb unter totalitären Machthabern lavieren mußte.

Gründe, Auslöser und Folgen meiner Westflucht haben mich mein Lebtag stark beschäftigt, das ist nachzulesen in Nummer 39 der „Veröffentlichungen zur Burger Geschichte“ (2000): „Die Berichterstatterin von Burg“. Mein Hauptanliegen ist die Darstellung der drei denkwürdigen Monate Schulunterrichts zum Thema „Demokratische Umerziehung“ bis Weihnachten 1945 als Zeitzeuggin, woraus erhellt, daß Umerzogenwerden (und Umerziehen) schwere Arbeit war und Anerkennung verdient, anstatt ideologisch tot geschwiegen zu werden. Von Dr. T. fühle ich mich zu der Aussage ausdrücklich ermutigt!

Und weil ein Leser wissen muß, wer es ist, der hier unkonventionelle Meinung vertritt, habe ich Schilderungen meines damaliges Umfeldes angefügt: Kindheit im Marienweg, Gesellschaftsprobleme der Vorkriegszeit, jugendliche Verstrickung in NS-Diktatur, Familienforschung Reimann, Lebensschicksal des Dr. T., Spätheimkehrer als sogenannte Kriegsverbrecher, Hommage an Schuster Specht, Westschelte der DDR-Schriftstellerin B. R.; Lebensweg der DDR-Totalverweigerin im Westen.

Als ich nach Beruf, Kinderaufzucht und Ehrenamt mit „Sprachbasteln“ endlich fertig war, war der Buchmarkt für Autoren wie „Lieschen Müller“ dicht. Beratung und fachliche Hilfe, z. B. für Textauswahl und -aufbau: Fehlanzeige! Ich gliederte nach Gutdünken die große Fülle, behielt einen Rest zurück und nutzte zur Veröffentlichung eine neu sich bietende „demokratische“ Gelegenheit zu erschwinglichen Kosten bei BoD. Als Umschlagbild für Nr. 39 wählte ich das Lieblings-Stadtmotiv der Burger, das Berliner Tor als Scherenschnitt, (am PC bearbeitet von meinem jüngeren Sohn Hans-Henning). Die einmalige Darstellung (Künstlername unleserlich) stammt aus Privatbesitz und sollte auf diese Weise unter Heimatfreunden Gemeingut werden.

Der verbliebene Rest ist in „… alles in Scherben …“ zusammengefaßt, im Stadthallenbuch mit Nr. 38 lediglich als „Buch im Druck“ angezeigt. Es erschien Ende des Jahres 2003 ebenfalls bei BoD. Ich beschreibe darin das letzte halbe Jahr vor Kriegsende in Burg, Alltag und Höhepunkte im Erleben der Sechzehnjährigen/Siebzehnjährigen: Hausball im Seeschlößchen, Bombennacht 1944, Schüler-Schippeinsatz, Wehrertüchtigungslager Stendal, Nachricht vom Holocaust auf der Banndienststelle, Lazaretteinsatz, Diphtherieepidemie, Artilleriebeschuß, Versiegen öffentlichen Lebens, banges Warten auf Besatzer Ost oder West, Volkes Stimme dazu. Der Buchtitel erinnert an ein chauvinistischen NS-Lied, dessen Sinn sich gegen Deutschland selber kehrte. Das ebenfalls von meinem jüngeren Sohn Hans-Henning Möller gestaltete Titelbild zeigt in Computergraphik dasselbe Scherenschnitt-Motiv, doch wie die so geliebten Türme nach dem Bombenabwurf 1944 nächtlich beleuchtet werden vom Brand der Zimmerstrecke Schlüter in der Holzstraße.

Für den, der zu lesen versteht, weisen meine Texte über Burgensisches weiter hinaus. Sie zeigen, wie meine Generation von Ideologien zugerichtet wurde, von einer, in die wir unschuldig hinein gewachsen sind und von einer, die uns mit Brutalität übergestülpt wurde oder werden sollte. Nun sind wir sie zum Glück beide los oder doch so gut wie, und sollten auf der Hut sein, uns jemals wieder eine aufschwatzen zu lassen!

25: Der Trommler-Text, veröffentlicht in „Anthologie ’95“ des Frieling-Verlags (S. 498-517), ist nur noch in wenigen Exemplaren bei der Autorin vorrätig.

Nr.39 : Die Berichterstatterin von Burg, 442 Seiten, ist im Buchhandel sowie online erhältlich unter ISBN 3-8311-0145-0 durch Libri BoD und kostet 17,90 €.

Nr. 48 : „...alles in Scherben...“, 200 Seiten, ist unter ISBN 3-8330-0353-7 ebenso durch Buchhandlungen oder online bei Libri BoD zu bestellen und kostet 12,80 €.

Dem Stadtarchiv, der Stadtbücherei, dem Heimatverein und dem Gymnasium Burg (in Nachfolge der Luisenschule) liegen Freiexemplare zur allgemeinen Einsicht vor.