Hundert Jahre Detlefsenmuseum Glückstadt – Altertümersammlung der holsteinischen Elbmarschen

Dr. Arnold Lühning, 1994

Hochverehrte Festversammlung! Meine Damen und Herren!

Ein Festakt ohne die dazugehörige Festrede, das wäre wie eine Fahnenstange ohne Fahne! Das war schon bei Kaisers Geburtstag so und ist auch heute nicht anders. Und da es diesmal gleich drei Anlässe sind, derer bei diesem Festakt gedacht werden soll, könnten wir also gleich drei Fahnen hissen. Auf die Länge meiner Rede wird sich das allerdings nicht auswirken, zumal bei dem ersten der drei Ereignisse, das zur Grundlage – ja – man darf wohl sagen: zur Initialzündung für alle weiteren wurde, offenbar gar keine Festrede gehalten wurde.

… Dies Ereignis fand vor hundert Jahren am Sonntag, dem 18. Februar 1894 übrigens bei eiskaltem Winterwetter, alles war zugefroren – im Saal der Gastwirtschaft Franscher Garten hinter dem Großen Schwibbogen – also ganz in unserer Nähe – statt und war die Eröffnung einer „Ausstellung von Alterthümern der Holsteinischen Elbmarschen“. Die Idee dazu kam von dem Direktor der Gelehrtenschule, Prof. Detlef Detlefsen, und er war zugleich auch die treibende Kraft hinter dem ganzen Unterfangen. – Obwohl ich gewiß voraussetzen darf, daß man hier in Glückstadt bereits zusammen mit dem 1x1 lernt, wer und was Detlefsen war, muß ich doch etwas über Persönlichkeit und Werk dieses ungewöhnlichen Lehrers und Forschers sagen, damit wir eine Vorstellung von seinem geistigen Umfeld und der allgemeinen Bewußtseinslage dieser Zeit gewinnen. Und das sind dann wieder die Voraussetzungen zum Verständnis dessen, was wir hier heute feiern wollen. Zuerst also ein paar knappe Daten, wobei ich um Entschuldigung bitte, wenn ich Ihnen bereits Bekanntes sagen sollte:

Geboren wurde Detlef Sönnich Detlefsen 1833 als Sohn eines Lehrers in Neuendeich bei Uetersen in der Haseldorfer Marsch. Von 1842–1850 war er Schüler der Gelehrtenschule in Glückstadt (das ist das Gebäude am Kirchplatz, in dem sich jetzt das Jugendzentrum befindet) mit einer guten humanistischen Ausbildung. Mit 17 Jahren Reifeprüfung, anschließend Studium der klassischen Philologie und Theologie in Kiel, Bonn, Berlin und schließlich wieder Kiel, – noch einundzwanzigjährig die Promotion mit summa cum laude. (Heute pflegt man in diesem Alter meistens erst sein Abitur zu machen). Es folgte, wie das bei jungen Philologen und Theologen damals und auch später noch häufig üblich war, wenn sie nicht gleich eine feste Anstellung finden konnten, eine mehrjährige Tätigkeit als Hauslehrer in Wien, eine Aufgabe, die ihm genug Zeit läßt, sich in der Hofbibliothek mit dem Studium von Handschriften antiker Schriftsteller zu befassen. Dabei entdeckt er das Fragment einer Pergamenthandschrift der Historia Naturalis des älteren Plinius, und dieser Fund wird zu einem der Angelpunkte seiner späteren wissenschaftlichen Lebensarbeit, nämlich eine vergleichende Gesamtausgabe der Naturgeschichte auf der Grundlage aller damals bekannten Plinius-Handschriften. Ich werde darauf nachher noch einmal zurückkommen, weil sich zeigen wird, in welchem Maße die Beschäftigung mit Plinius auch Detlefsens eigenes wissenschaftliches Werk beeinflußt hat.

In Wien begegnete der junge Hauslehrer zwei Männern, die ihm wesentliche geistige Impulse vermitteln sollten. Der eine war sein Eiderstedter Landsmann Theodor Mommsen, seit kurzem Professor für Alte Geschichte in Berlin. Er war es, der Detlefsen schon damals und auch später immer wieder ermunterte und Mut machte, seine Plinius–Pläne zu verfolgen. Der andere hieß Hermann Allmers, Sohn eines Marschbauern und Deichgrafen aus Rechtenfleth an der Unterweser, 12 Jahre älter als Detlefsen, ein Feuerkopf mit großer Ausstrahlungskraft, der gerade sein erstes größeres Buch geschrieben hatte, das „Marschenbuch“, eine Art Heimatbuch über die hannoverschen Weser– und Elbmarschen, das rasch bekannt und in der Folgezeit ein Bestseller mit vielen Auflagen wurde. Bei dem kurzen Kennenlernen in Wien muß wohl ein Funke übergesprungen sein, der zu einer lebenslangen und für beide außerordentlich anregenden Freundschaft führte, als die beiden Männer sich im Oktober 1858 in Italien wiedertrafen, – Detlefsen nun als dänischer Stipendiat zur Pliniusforschung in italienischen Bibliotheken, Allmers als der enthusiastisch für alle Schönheiten aufgeschlossene Genießer, der stets einen großen Freundeskreis um sich sammelte und brauchte, beide aber mit der großen Italiensehnsucht der Nordländer im Herzen. – Ein ganzes Jahr leben und arbeiten die Reisegenossen in Rom. Allmers, der kunsterfahrene Mentor, öffnet Detlefsen die Augen für die Schönheiten der Landschaften und Kunstschätze Italiens; Detlefsen, der klassische Philologe, erschließt Allmers neue und ungekannte historische Dimensionen und Sichtweisen.

Allmers reiste schon Ende 1859 in seine Heimat zurück, und damit begann ein immer lebhafter werdender Briefwechsel zwischen den Freunden bis zu Allmers Tod Anfang 1902. Detlefsen blieb bis 1862 in Italien, Stadt für Stadt, Bibliothek für Bibliothek abklappernd, zuletzt im Auftrage der französischen Akademie der Wissenschaften, arbeitete dann noch ein Jahr in der kaiserlichen Bibliothek in Paris und kehrte im Herbst 1863 nach Deutschland und Schleswig–Holstein zurück, wo kurz darauf der deutsch–dänische Krieg ausbrach. – Das zwang Detlefsen, zunächst als Hilfslehrer in Kiel und Flensburg zu arbeiten, bis er am 1. Oktober 1865 eine feste Anstellung an seiner alten Gelehrtenschule in Glückstadt fand. 1875 erhielt er den Professorentitel und 1879 wurde er Direktor seiner Schule, obwohl es normalerweise ja nicht üblich ist, daß man Direktor einer Schule wird, an der man vorher als Lehrer gearbeitet hat. 1904 ging er mit 71 Jahren in den Ruhestand.

Schon bald nach seinem Dienstantritt in Glückstadt begann Detlefsen mit der Auswertung seiner Plinius–Forschungen und der Edition der Naturalis Historia, die bis 1872 in 6 Bänden erschien. Man muß wissen, daß dieses Werk des Plinius viel mehr erfaßt als das, was wir heute unter einem Lehrbuch der Naturgeschichte verstehen. Was der Polyhistor Plinius, der als römischer Marineoffizier ja auch die Westküste Schleswig-Holsteins kennengelernt hatte und später beim Vesuv–Ausbruch im Jahre 79 ums Leben kam, – was also Plinius in den 37 Bänden seiner Naturalis Historia zusammen getragen hatte, war im Grunde eine Enzyklopädie des gesamten Wissens seiner Zeit, von Himmel und Erde, von Geologie und Geographie, von Pflanzen, Tieren, Menschen, von Vielfalt, die die Gelehrten vom Mittelalter bis hin zu Detlefsen so außerordentlich gereizt hat, sich mit diesem Werk und seinem Inhalt auseinanderzusetzen.

Wenn man sich das vor Augen hält und dabei zugleich an die anregenden geistigen Kontakte zu Allmers, dem Dichter des Marschenbuches und gleichzeitig engem Freund des Naturforschers Haeckel denkt, dann wird verständlich, wie in diesen Jahren bei Detlefsen allmählich die Idee eines Buches reifte, das auf ebenso umfassende Weise die „Historia“ seiner eigenen Heimat, der Elbmarschen, darstellen sollte, von ihren Anfängen bis in die Gegenwart, von der Natur bis zu den Menschen, ihrer Geschichte und ihrem Tun. – Dieses Buch, die „Geschichte der holsteinischen Elbmarschen“ erscheint nach sechsjährigen intensiven und gründlichen Vorarbeiten 1891 und 92 als ein zweibändiges Werk von rd. 1000 Seiten und wird von da an d a s Standardwerk für alle weiteren Elbmarschenforschungen. Wer es kennt und gelesen hat, (und das lohnt sich auch heute noch!) wird mir beipflichten, wenn ich sage, daß es eine außerordentliche Materialfülle aus allen Bereichen der historischen Landes– und Volkskunde birgt, auf der Grundlage einer intensiven Erschließung von bis dahin kaum oder gar nicht bekannten Quellen und Archivalien und vor dem Hintergrund eigener Erkenntnisse und engster Vertrautheit mit der eigenen Heimat, ihren Menschen und ihrer Arbeit. Und das alles geschrieben in einem wunderschönen – fast poetischen – Deutsch, dem man Satz für Satz die Schulung an klassischen Vorbildern nachspüren kann. Auch jetzt noch schießt mir bei der Lektüre dieses Buches alle Augenblicke durch den Kopf: Was muß dieser Mann für einen spannenden Unterricht gegeben haben, und wie gern wäre ich sein Schüler gewesen!

Immerhin – gestatten Sie mir diese Zwischenbemerkung – habe ich das Glück gehabt, sozusagen Enkelschüler von Detlefsen geworden zu sein, was mir allerdings erst kürzlich, fast sechzig Jahre später, richtig bewußt geworden ist. Denn mein Lateinlehrer Rudolf Mohr, wir nannten ihn wegen seiner väterlichen Art Vadder Mohr, war ein Bauernsohn aus Brunsbüttel, der in den 1890iger Jahren die Glückstädter Gelehrtenschule besuchte und bei Detlefsen seine Reifeprüfung abgelegt hat. Dabei muß sich etwas von den Interessen und der Begeisterungsfähigkeit, die Detlefsen ausstrahlte, auch auf „Vadder Mohr“ übertragen haben, denn ich kann mich sehr gut an Einzelheiten aus seinem Unterricht erinnern, die er – genau besehen – eigentlich nur bei seinem Direx Detlefsen gelernt haben kann und die dann auch indirekt weitergewirkt haben. Und ich bin sicher, daß das nicht nur mir so gegangen ist! Sie wollen mir bitte nachsehen, wenn ich hier etwas ausführlicher geworden bin, aber nun werden Sie begreifen, was Detlefsen in seinem unermüdlichen Eifer schon im Frühjahr 1893, also nur ein halbes Jahr nach dem Erscheinen seines Marschenbuches dazu drängte, auf eine Ausstellung zu sinnen, in der sich die Blütezeit der bäuerlichen und bürgerlichen Kultur der Elbmarschen im 18.und frühen 19. Jh. widerspiegeln sollte. Hinter diesem Drang stand einerseits das neu gewonnene Wissen um diese Blüte und worin sie zum Ausdruck kam und andererseits die ernüchternde Erkenntnis, daß die politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklungen seit den 1840ger Jahren zu einer radikalen Neuorientierung und dadurch zu einem immer stärkeren Verlust der überlieferten Werte der volkstümlichen Kultur sowohl im geistigen als auch im materiellen Bereich geführt hatten.

Es war also nur konsequent, wenn Detlefsen in seinem pädagogischen Impetus versuchen wollte, diese Werte mit Hilfe einer großen Ausstellung von „Alterthümern“ aus bäuerlichem und bürgerlichem Besitz wieder ins Bewußtsein zu rufen. Dazu schrieb er ab Frühjahr 1893 eine ganze Reihe von Aufrufen und Aufsätzen für die Marschbevölkerung, in denen der Sinn und Zweck der Ausstellung und die Art der dafür erbetenen Leihgaben beschrieben wurden. Geschickt verband er dabei den Ausstellungstermin mit der alljährlich stattfindenden Generalversammlung des „Landwirtschaftlichen und Hagelschadenvereins für das südwestliche Holstein“ im Februar 1894, um eine möglichst große Öffentlichkeit zu gewinnen. Tatsächlich gelang es Detlefsen zu seiner eigenen Überraschung über 1200 Gegenstände von etwa 300 Leihgebern zusammenzutragen (übrigens auch organisatorisch eine außerordentliche Leistung!), so daß die Zeitung, die Glückstädter Fortuna, stolz berichten konnte, daß die Ausstellung die Sammlungen in Hamburg (damit war das Museum für Kunst und Gewerbe gemeint), in Kiel (das betraf das Museum vaterländischer Alterthümer und das Thaulow-Museum) und auch in Meldorf (das Museum dithmarsischer Alterthümer) überträfe. – Die (so wörtlich) „meisterhafte Zusammenstellung“ der Gegenstände war übrigens dem Direktor des Museums für Kunst und Gewerbe, Dr. Justus Brinckmann, zu verdanken, der – sicher nicht nur aus uneigennützigen Gründen – zwei Tage vor der Eröffnung nach Glückstadt gekommen war, um als Fachmann Ordnung in die Überfülle der Einzelobjekte zu bringen. Aber auch Heinrich Sauermann, Gründer und Direktor des Flensburger Museums, und Dr. Johanna Mestorf, Direktorin des Museums für Vaterländische Alterthümer in Kiel, kamen eigens angereist, um sich ein Bild von der Äusstellung zu verschaffen.

Erst zwei Tage nach der Eröffnung, die wohl ohne besondere Formalitäten vor sich ging (jedenfalls ist nichts darüber berichtet), gab Detlefsen im Rahmen der Generalversammlung des landwirtschaftlichen Vereins eine Einführung in die Ausstellung. Er kam allerdings erst an dritter Stelle von insgesamt vier Vorträgen zu Wort, nach dem Jahresbericht des Vorsitzenden und einem zweistündigen Vortrag über die Weltausstellung in Chicago – die versammelten Landwirte besaßen offensichtlich ein vorzügliches Sitzfleisch –, und nun zitiere ich die Glückstädter Fortuna:

„In der wohlbekannten gemüthlichen Weise berichtete der Herr Professor über besonders bemerkenswerte Einzelheiten der Ausstellung, zum Teil mit großem Humor, daß die Heiterkeit der Hörer vielfach die Worte des Redners übertönte. Referent schloß mit der Bitte an die Aussteller und etwaigen weiteren Besitzer von Alterthümern, dieselben zur Gründung eines Museums am hiesigen Orte zu belassen. Möge der warme Appell des Herrn Directors den gewünschten Erfolg haben!“

Und damit, meine Damen und Herren, hören wir zum ersten Mal konkret von Detlefsens Plan, ein Museum zu gründen, wobei offen bleibt, ob ihm die Idee erst angesichts der überreichen Fülle der Leihgaben und des positiven Widerhalls der Ausstellung in der Öffentlichkeit gekommen ist oder ob er solche Pläne schon vorher gehegt hatte. Ich vermute aber das letztere, denn mit der Reichsgründung 1871 hatte auch eine Museumsgründerzeit begonnen. Ich nenne nur einige Daten aus unserer Region: 1872 das Museum dithmarsischer Alterthümer in Meldorf, 1873 das Museum für Kunst und Gewerbe in Hamburg und die Sammlung von Dr. Hartmann in Marne, mit dem Detlefsen übrigens befreundet war und aus der später das Skatklubmuseum hervorging, 1875 das Thaulow–Museum in Kiel, 1876 das Flensburger Museum, 1879 und 1882 die Altertumsvereine mit Sammlungen in Schleswig, Mölln und Lauenburg, und 1889 das Eutiner Museum – und hinter diesen Gründungen stand nicht nur ein neu erwachtes nationales Geschichtsbewußtsein, sondern auch – genau wie bei Detlefsen – die Erkenntnis, daß das kulturelle Erbe, das man doch gerade erst entdeckt und zu schätzen begonnen hatte, bereits unter den Händen zu zerrinnen drohte.

Ich kann das hier nur andeuten, aber so wird verständlich, daß Detlefsen nur 14 Tage nach dem Ende der Ausstellung, die in einer Woche über 3000 Besucher gehabt hatte, einen neuen Aufruf mit der Bitte um Geschenke und Leihgaben für das zu gründende Museum an die Öffentlichkeit richtete und daß dieser Aufruf auf fruchtbaren Boden fiel. Ein Teil der Ausstellungsstücke blieb gleich in Glückstadt, weiteres wurde alsbald geschenkt, wie man in den folgenden Wochen unter der Rubrik „Alterthümersammlung“ in der Glückstädter Fortuna nachlesen kann. – Unter den Schenkern wird auch mehrmals der Gemeindevorsteher Heinrich Rave aus Moorhusen genannt. Ich erwähne das hier darum, weil Rave der Verfasser des 1901 erschienen Büchleins über die Amtsbezirke Kollmar und Seestermühe war, das er unter ausdrücklicher Berufung auf Detlefsens Marschenbuch geschrieben hatte, und weil auch der Enkel Heinrich Raves, der Bauer Robert Rave, in der Nachfolge seines Großvaters ein interessantes Büchlein veröffentlichte, in dem er das Leben in der Marsch um die Jahrhundertwende beschrieb. Das sind kleine Beispiele für die Aus– und Folgewirkungen dessen, was Detlefsen damals in Bewegung brachte. – Auch die städtischen Kollegien waren aufgeschlossen und stellten sofort einen Raum für die wachsende Sammlung – im Mai waren es bereits 232 Gegenstände – zur Verfügung. Detlefsen verstand es geschickt, durch gelegentliche Zeitungsberichte das Interesse der Öffentlichkeit wachzuhalten. 1896 hatte sich der Bestand durch Geschenke und Leihgaben aus Stadt und Land bereits mehr als verdoppelt, – schon machte sich Raumnot, das Grundmotiv aller Museumsgeschichte, bemerkbar, – ein zweiter Raum wurde benötigt, bis die Stadt 1898 in der Königstraße das alte Logenhaus neben dem Wasmer–Palais erwarb, um die Sammlung in einem großen Saal angemessen unterbringen zu können, und dort ist sie dann auch für die nächsten 70 Jahre geblieben.

Ich spreche hier absichtlich von „Sammlung“ und nicht von „Museum„, weil auch Detlefsen in seinen weiteren Berichten fast nur von der „Alterthümer–Sammlung“ spricht. Man muß vermuten, daß er in seiner bescheidenen Art und in Erkenntnis seiner begrenzten Möglichkeiten ganz bewußt den anspruchsvollen Begriff „Museum“ vermeiden wollte, zumal in diesen Jahren die prächtigen Museumsneubauten in Flensburg, Meldorf und Altona entstanden, mit denen Glückstadt natürlich nicht konkurrieren konnte. Und so blieb die Sammlung auch in der Folgezeit ausschließlich auf ehrenamtliche Betreuung und Mitarbeit und auf Geschenke, Spenden und Leihgaben angewiesen, regelmäßige Öffnungszeiten gab es nicht, auch keine Werkstätten oder Magazine und auch keinen Trägerverein, so daß die Hauptlast aller Arbeiten auf den Schultern Detlefsens lag. Nur ein Museumsmann kann wohl recht ermessen, wie groß diese Last tatsächlich war. Die hat Detlefsen neben allen anderen Aufgaben, die er zu bewältigen hatte, unverdrossen getragen, bis er sich im Januar 1909 ein Bein brach – beim Schlittschuhlaufen – ich bitte Sie, sich das vorzustellen: Der königliche Gymnasialdirector und Geheimrat Professor Dr. Detlefsen 75 Jahre jung schlittschuhlaufend, – das kann man wohl nur nachvollziehen, wenn man in der Marsch groß geworden ist und um die Freuden des Eislaufs weiß. Aber diesmal ging es nicht gut, der Bruch wollte nicht heilen, und so sah Detlefsen sich schweren Herzens gezwungen, seine Sammlung in die Obhut der Stadt zu übergeben. Das war 1910, – ein Jahr später ist er verstorben. – Mit ihm ging der spiritus rector dahin, – kein Wunder also, daß die Sammlung alsbald in einen tiefen Dornröschenschlaf verfiel, zumal in den folgenden Jahren ganz andere Sorgen und Probleme drängten, der 1. Weltkrieg, Revolution, Inflation und allgemeine große Not.

Der Prinz, der das Kind wach küssen sollte, kam erst 1925, – er hieß Dr. Hubert Stierling, war Assistent am Altonaer Museum und auf der Suche nach volkstümlichem Silberschmuck der Nordseeküste in Museen und Privatbesitz, um darüber ein Buch zu schreiben, was er dann später auch getan hat. Der Zustand, in dem er das Dornröschen vorfand, erschreckte ihn dermaßen, daß er sich spontan erbot, eine Überholung von Grund auf und eine Neuaufstellung des Museums vorzunehmen, ein Angebot, auf das der nun ebenfalls aufgeschreckte Magistrat unverzüglich einging und zu diesem Zweck sogar ein paar hundert Mark im Nachtragshaushalt locker machte. Stierling ging im Sommer 1925 an die Arbeit. Als Helfer wurde der Glückstädter Lehrer Henry Rößler delegiert, der sich auf diese Weise zum zukünftigen Leiter des Museums qualifizieren sollte, und auch der Kunstmaler Max Kahlke wurde zur Ausgestaltung des Raumes herangezogen. Er lieferte einen langen Fries von 95 Wappen aus den Elbmarschen. Außerdem wurde auf Antrag Rößlers beschlossen, daß die Sammlung zukünftig Detlefsenmuseum heißen sollte. – Im Frühjahr 26 fand die feierliche Neueröffnung statt, mit obligatorischem Festakt, einem Festvortrag von Dr. Stierling und einem festlichen Umtrunk aus einem der Museumspokale. Natürlich war auch Stierlings Chef, Prof. Lehmann, der Direktor des Altonaer Museums, dabei. Er hatte schon zu Anfang des Jahrhunderts an der Seite Detlefsens die Elbmarschen durchwandert und war seitdem ein glühender Verfechter der Idee, daß oberstes Ziel aller musealen Arbeit, – vor allem aber der der Heimatmuseen, –‚ die Erweckung von Heimatliebe in allen Bevölkerungskreisen sei.

Wenn man das so hört, und mehr noch, wenn man den ausführlichen und enthusiastisch lobenden Bericht in der Fortuna nachliest, dann könnte man natürlich ein wenig schmunzeln. Aber bei weiterem Nachdenken spürt man doch, wie sehr ernst es diesen Männern war, die nach einem verlorenen Krieg und dem Zusammenbruch aller alten Ordnungen nach einer Neuorientierung suchten und sich dabei auf Werte einer Heimatkultur besannen, die sie in ihren Museen glaubten finden zu können. Vieles, was uns heute nach hohlem Pathos klingt, wird aus der damaligen Situation verständlicher und gewinnt dabei einen echteren Ton. – Tatsächlich hatte der hoffnungsvolle Auftakt eine belebende Wirkung auf das neue Detlefsenmuseum unter seinem neuen Leiter Rößler: Es verfügte von da an über einen Etat im städt. Haushalt, die Sammlungen konnten weiter ausgebaut werden, es gab geregelte Öffnungszeiten und sogar einen Hausmeister.

Der Einzugsbereich des Museums begann allerdings allmählich enger zu werden, weil inzwischen in Itzehoe und Elmshorn zwei neue Museen entstanden waren, die sich ebenfalls für die Elbmarschen zuständig fühlten. Die ursprüngliche Idee Detlefsens, daß sich in seinen Sammlungen die ganzen Elbmarschen repräsentieren sollten, ließ sich also auf die Dauer nicht durchhalten, um so klarer kristallisierten sich dabei aber diejenigen Aufgabenbereiche heraus, die sich dem Museum im Hinblick auf die Geschichte und Volkskunde Glückstadts und der umliegenden Marschgebiete stellten, und das ist, wie man heute erkennen kann, der Aussagekraft der Sammlungen in vieler Hinsicht förderlich gewesen.

Aber damit sind wir bereits vorgeeilt, denn der zweite Weltkrieg brachte alles, was sich bis dahin angebahnt hatte, zum Stillstand. Die Sammlungen mußten schließlich sogar wegen anderweitiger Nutzung des Gebäudes ausgelagert werden, und als sie schließlich zurückkehren konnten, hatten sie erheblichen Schaden genommen. So brauchte es Jahre mühsamer Arbeit, um das Museum wieder in einen ansehnlichen Zustand und zurück in das Bewußtsein der Öffentlichkeit zu bringen.

Als Konrektor Rößler 1963 nach 38jähriger ehrenamtlicher Museumsleitung in den Ruhestand ging, konnte er seinem Nachfolger Realschuldirektor Asmussen ein geordnetes, aber schon wieder mit großen Raumnöten belastetes Museum übergeben, dessen Sammlungen auf allen Gebieten beträchtlich angewachsen waren und dem – das war damals schon abzusehen – bald umfangreiche weitere Erwerbungen ins Haus stehen sollten. Ich denke dabei vor allem an das Vermächtnis von Wanda Oesau und den Nachlaß von Fritz Lau. – So richtete sich Asmussens Augenmerk von Anfang an auf die Gewinnung neuer Räumlichkeiten. Schon bei der Neueröffnung 1926 hatte Stierling in weiser Voraussicht der zukünftigen Entwicklung des Museums den Glückstädter Stadtvätern dringend ans Herz gelegt, das nebenan gelegene Wasmer–Palais, das damals als Schule diente, für die Zwecke des Museums zu nutzen, und die Hoffnung auf diese Lösung hat zweifellos dazu beigetragen, an keine Alternativen zu denken, denn ich kann mich gut erinnern, daß diese Idee auch 1962 noch verfolgt wurde.

Bis ein Glückstädter Bürger den unerhörten Vorschlag machte, das Brockdorff-Palais am Fleth, das im Zuge der damals beginnenden Altstadt–Sanierung abgerissen werden sollte, doch lieber stehen zu lassen, das Gebäude zu restaurieren und darin neben anderen Einrichtungen zukünftig auch das Deflefsenmuseum unterzubringen. Aus heutiger Sicht klingt das so plausibel, daß man weiter kein Wort darüber zu verlieren braucht, aber vor 30 Jahren – in der Euphorie wirtschaftswunderlichen Denkens – sah das anders aus. Und so muß man es fast als ein Musterbeispiel zukunftsorientierter Einsicht betrachten – vielleicht war es ja der gute Geist Detlefsens, der da nachwirkte –, daß die Idee sich trotz mancher Widerstände glücklich durchsetzte. – Das Brockdorff-Palais wurde saniert und ab 1968 konnte Herr Asmussen mit der Einrichtung des Museums im Obergeschoß des Hauses beginnen. Zur Seite stand ihm dabei eine kleine, tüchtige und außerordentlich einsatzfreudige Mannschaft von freiwilligen Helferinnen und Helfern, ohne deren Unterstützung die Neuaufstellung der Sammlungen überhaupt nicht möglich gewesen wäre. Die Eröffnung der insgesamt neun Räume vollzog sich in mehreren Abschnitten, um das Museum wenigstens in Teilen so bald wie möglich der Öffentlichkeit wieder zugänglich zu machen, und nach diesem bewährten Muster verfahren wir ja auch heute wieder.

Leider war es Herrn Asmussen nicht vergönnt, sein Werk zum Abschluß zu bringen. Als er 1978 verstarb, befand sich die Stadtgeschichtliche Abteilung im letzten der 9 Räume noch im Aufbau. Diese Aufgabe hat dann Herr Rektor Möller als sein Nachfolger und vierter Pädagoge in der Leitung des Museums, zusammen mit Herrn Thun, dem das Museum das hervorragende Stadtmodell verdankt, zu Ende geführt. Herrn Möller blieb es auch vorbehalten, einen anderen Plan von Herrn Asmussen in die Tat umzusetzen, nämlich die Gründung eines Vereins von Freunden und Förderern des Detlefsenmuseums. – Schon Detlefsen hatte sich einmal zu dem Gedanken eines solchen Vereins geäußert, – er schrieb, daß man angesichts der regen Teilnahme der städtischen und ländlichen Bevölkerung an der Sache des Museums bisher davon abgesehen habe, einen Verein mit jährlichen Beiträgen zu gründen. Diese „Teilnahme“ war denn auch in den folgenden Jahrzehnten niemals ganz eingeschlafen, ja, man darf wohl sagen, daß sie durch den Umzug des Museums in das Brockdorff-Palais neue Impulse erhielt. Aber es zeigte sich eben auch sehr deutlich, daß ein Museum, das nicht nur passiv auf mehr oder weniger zufällige Schenkungen angewiesen sein will, in unserer Zeit mehr als früher auf die Unterstützung von Freunden und Förderern angewiesen ist, weil die kommunalen Träger auch bei gutem Willen allzuhäufig überfordert sind, wenn ihr Museum vor größeren Aufgaben oder Erwerbungen steht.

So kam es also 1979 zur Gründung des Vereins der Freunde und Förderer, dessen 15jähriges Bestehen wir heute feiern wollen. Nun liegt es freilich gar nicht im Wesen von Freundschaft und Förderung, daß sie an die große Glocke gehängt werden, viel lieber wirken sie ganz still und ohne großes Aufheben, einfach aus Freude und Interesse an der Sache. Aber es gibt ja auch den schönen Snack: „Ick weet woll, dat ick nett bin, sä de Deern, awer mennigmol mutt een dat ok seggt warrn“, und so sei es hier und heute einmal gesagt, daß sich dieser Verein mit seinen rund 190 Mitgliedern in den 15 Jahren seines Bestehens unter dem langjährigen Vorsitz von Frau Ellen Meinert und später von Herrn Norbert Meinert zu einem äußerst wirkungsvollen Motor für die Arbeit des Museums entwickelt hat. – Immer wenn es galt, dem Museum in einer schwierigen Lage beizustehen, wenn finanzielle Hilfe für besondere Aufgaben oder wichtige Erwerbungen vonnöten war oder wenn Rat und ideelle Unterstützung für die Belange des Museums gebraucht wurden, hat sich der Verein im wahrsten Sinn des Wortes als Stütze und Stab bewährt. Und durch seine vielfältigen kulturellen Aktivitäten ist er zugleich zum berufenen Bindeglied zwischen dem Museum und seiner Öffentlichkeit geworden, eine Aufgabe, deren Bedeutung gerade für ein regional orientiertes Museum wie das Detlefsenmuseum gar nicht hoch genug einzuschätzen ist. Was ich damit meine, läßt sich am einfachsten wohl so ausdrücken, daß man nicht mehr von dem Detlefsenmuseum spricht, sondern von „unserem“ Detlefsenmuseum. – Für Herrn Möller und seine treue Mannschaft war es wohl gut, einen solch verläßlichen Verein hinter sich zu wissen, besonders, wenn man an die Aufgaben – ja, man darf wohl sagen: an die Zerreißproben – denkt, die das Museum in den letzten Jahren zu bestehen hatte. Erlauben Sie mir also, daß ich mich zum Sprecher aller derer mache, die von „unserem“ Detlefsenmuseum reden: Dank an alle Freunde und Förderer für Ihren selbstlosen Einsatz, – wir möchten und können Sie auch in Zukunft nicht missen!

Und damit, meine Damen und Herren, stehen wir bereits an der Schwelle des dritten Ereignisses, das es heute zu feiern gilt, die Wiedereröffnung des Detlefsenmuseums im hundertsten Jahre seines Bestehens. Über Ursachen und Gründe, warum das Museum 1992 seine Pforten schließen mußte, welche Folgen das hatte, und was nun glücklich dabei herausgekommen ist, – darüber werden Sie gleich aus berufenem Munde von Herrn Möller hören.

Aber sicher geht es Ihnen so wie mir: Wenn man sich vergegenwärtigt, daß das Detlefsenmuseum 100 Jahre nach seiner Gründung nun wieder einmal – wie schon 1926 und 1968 – vor einer Neu–Aufstellung, vor einem Neubeginn, steht, dann schaut man nicht nur zurück, sondern denkt unwillkürlich auch daran, wie es in Zukunft weiter werden soll, – vor allem angesichts der heute ganz allgemein, aber auch im Museumswesen deutlich erkennbaren Tendenzen, die auf eine zunehmende Professionalisierung der musealen Arbeit, auf eine Perfektionierung der Darstellungsweisen und auf eine Kommerzialisierung des kulturellen Angebots hinauslaufen. Das sind Entwicklungen in unserer Gesellschaft, die man nicht nur sorgsam beobachten, sondern wohl auch im Zaume halten sollte, weil sie allzuleicht die Lust, etwas selbst zu tun und zu entdecken, den Mut zu Improvisation und unkonventionellen Lösungen und nicht zuletzt die Freuden am geistigen Gewinn verschütten könnten, – also gerade die Werte, die zu den Grundvoraussetzungen für alle Beschäftigung mit dem Museum und im Museum gehören. Solche Überlegungen gehen mir in letzter Zeit öfters durch den Kopf, gerade, wenn ich an die zukünftige Rolle der kleineren Regional– und Heimatmuseen in unserem Lande denke. – Um so mehr möchte ich also unserem Detlefsenmuseum wünschen, daß der Geist, die Ideen und die Begeisterungsfähigkeit, die Detlefsen beflügelt haben, auch im zweiten Jahrhundert des Museums lebendig und wirksam bleiben, bei allen, die sich für dies Haus einsetzen, die sich ihm verbunden fühlen und die als Besucher und Gäste hier Freude und Anregung suchen und finden können.

Festrede in: Glückstädter Museumsheft Nr. 6 1994: 100 Jahre Detlefsenmuseum – 15 Jahre Verein der Freunde und Förderer des Detlefsenmuseums e. V. – Wiedereröffnung im restaurierten Brockdorff–Palais am 19. Dez. 1994.

(Professor Dr. Arnold Lühning, (1923–2002), war Kustos (1953–1988) und stellvertretender Direktor des Landesmuseums Schleswig, Begründer der Volkskundlichen Sammlungen (jetzt auf dem Hesterberg) und Mentor ehrenamtlicher Museumsleiter innerhalb der von ihm wiederbelebten Arbeitsgemeinschaft Schleswig–Holsteinischer Museen.)